AUF DEN SPUREN VON....

Einleitung zu der Reihe

‘Ein Leben für die Musik’

von Paul Agnew

Mit unserem mehrere Einspielungen umfassenden Projekt   “J. S. Bach, ein Leben für die Musik” unternehmen wir den Versuch, uns dem Leben und der Persönlichkeit Bachs durch einige seiner charakteristischsten Kantaten anzunähern. Wir werden ihm von seiner Heimatstadt Eisenach zu seinen verschiedenen Anstellungen in Arnstadt, Mühlhausen, Weimar und Köthen folgen. Wir erkunden die Musik, die er (neben seinen Rivalen) bei seiner Bewerbung auf das Thomaskantorat in Leipzig darbot, und wir werden ausgewählte Kantaten aus seinen für Leipzig geschaffenen Jahrgängen von „wohl-bestallter“ Kirchenmusik präsentieren.

Es ist mir eine Freude, in diesem dokumentarischen Teil, den wir mit jeder neuen Veröffentlichung erweitern werden, mit Ihnen die Überlegungen zu teilen, die zur Gestaltung dieser den Spuren Johann Sebastian Bachs folgenden CD-Reihe geführt haben – die Fragen, die meine Neugier geweckt haben und die Antworten, für die sich in seiner Biographie Hinweise finden.

Ein angenehmer Bach kan zwar das Ohr ergötzen

Johann Gottlob Kittel, 1731 

Ein innigeres Verständnis

Wie so viele andere vor mir fand auch ich eine erste Gelegenheit, Bach zu singen, als Junge im Kinderchor, wo man uns die Choralmelodie im Eröffnungssatz der Matthäus-Passion anvertraute. Das war ein prägender Augenblick, und seither hatte ich das große Glück, die meisten seiner Kantaten, die beiden erhaltenen Passionen (sowie zwei unterschiedliche Rekonstruktionen der Markus-Passion), die Messen und die Oratorien aufzuführen und einzuspielen. Bach zu singen ist nichts für Kleinmütige, und jede Arie bietet (vor allem für den Tenor, so schien es mir immer!) eine neue und besonders schwierige Herausforderung. Ich habe mich in jenen Jahren oft gewundert – und tue dies heute noch –, was Bach wohl inspiriert haben mag, solch außergewöhnliche und kompromisslose Musik zu schreiben. Was mögen die Sänger in seiner Zeit gedacht haben, als man ihnen diese teuflisch schwierigen Partien nur wenige Tage vor der Erstaufführung vorlegte? Wer oder was beeinflusste Bach bei den Entscheidungen, die er traf, und was trieb ihn Woche für Woche an, seine eigene Seele so tief zu erforschen und Musik von solch außergewöhnlicher Tiefgründigkeit und Schönheit zu produzieren? Was waren die Umstände, die ihm erlaubten, solche Musik zu schaffen? Für wen wurde sie komponiert? Wer sang und wer spielte sie? Was für eine Art Mensch war Bach, und können wir in seinen Kompositionen eine Reflektion seines Charakters wahrnehmen? Was inspirierte ihn als Kind, so hart an Cembalo und Orgel zu arbeiten, dass er mit siebzehn Jahren bereits als Virtuose galt? Unter welchen Umständen fand er zum ersten Mal Gelegenheit, Musik für Vokalstimmen und Instrumente zu schreiben? Welche Rolle spielte sein lutherischer Glaube in seiner Musik? Welche Entwicklungsstadien durchlief er in jenen ersten Jahren, bis er seine eigene, unverwechselbare Stimme fand?

Wenn wir alle diese Fragen beantworten könnten, würden wir sicherlich tiefer in seine Musik eindringen, wir würden ein innigeres Verständnis und größere Wertschätzung für das entwickeln, was Bach zu erreichen versucht hat.

Was für eine Art Mensch war Bach, und können wir in seinen Kompositionen eine Reflektion seines Charakters wahrnehmen?“

Bachs Ruf als einer der größten Komponisten der westlichen Tradition steht außer Frage, doch sich vorzustellen, dass jede einzelne Note seiner Musik gleichermaßen wundervoll ist, von seinem ersten noch tastenden Choralvorspiel bis zur H-Moll-Messe, hieße nicht nur ihm zu schmeicheln, sondern würde auch riskieren, ihn und seine Musik herabzumindern. Bach durchlebte Kindheit, Jugend und junges Erwachsensein genau so wie wir alle diese Entwicklungsstadien durchlaufen haben. Sein Charakter wurde durch seine Lebenserfahrung geformt, und sicherlich versteht man seine Musik am besten in diesem Kontext – historisch und, wo dies angemessen ist, auch liturgisch –, denn das genau ist es, was ihn befähigte, diese Werke zu schaffen.

 

Eines der frühesten Porträts von J. S. Bach, hier im Alter von etwa dreißig Jahren
(Angermuseum Erfurt,  um1715) 

Ich habe in den Proben immer wieder gesagt, dass die Interpretation von Barockmusik auf drei entscheidenden Elementen beruht; diese sind – für mich – der Text, der Text und der Text. Um ein kleines aber wichtiges Beispiel für die Bedeutung des Kontexts anzuführen: Was hätte Bach von einer Kantatenaufführung gehalten, die nichts mit dem Evangelium für den spezifischen Sonntag zu tun hätte, für den sie geschrieben wurde? Hätte er sie für irrelevant gehalten, für vergeudete Zeit, für unverständlich? Der Evangelientext bildet offensichtlich den Ausgangspunkt für nahezu jede Kantate, denn dieser (das gilt zumindest für die meisten Kantaten) fiel die Aufgabe zu, eben diese Worte der Schrift zu erläutern. Eine Kantate diente nicht der Unterhaltung, sondern war ein pädagogisches Werkzeug zur Vorbereitung der Predigt, die das Evangelium vertiefend erläuterte. Ob man gläubig ist, Agnostiker oder Atheist, immer ist es interessanter, sich der Inspiration und raison d’être hinter der Dichtung bewusst zu sein, die sodann durch die Musik transformiert wurde – also der Evangelien, deren Parabeln und Wunder zum Gemeingut der christlich-westlichen Kultur gehören.

Zu diesem Kontext zählt auch die Frage, welche musikalischen Mittel Bach in Arnstadt, Mühlhausen, Weimar, Köthen oder Leipzig zur Verfügung standen. Natürlich hatte das kleine Arnstadt nicht das Budget der berühmten Leipziger Thomaskirche. Ganz offensichtlich schrieb Bach für die vorhandenen Kräfte, doch ganz gleich, ob als Spieler oder als Zuhörer: Wir müssen uns bewusst sein, dass diese Kräfte in der Praxis die Musik diktierten, die aufgeführt und mithin auch komponiert werden konnte. Dies ist ein Aspekt, auf den unsere Serie immer wieder zurückkommen wird, und wir hoffen auch, auf einige der oben gestellten Fragen zumindest tentative Antworten zu geben…

Die Bachs, eine florierende Musikerdynastie in Mitteldeutschland

1685–1700: Eisenach und die Familientradition

Um ganz am Anfang zu beginnen, Bach war der Spross einer großen Musikerdynastie. Die ersten Worte des von seinem zweiten Sohn Carl Philipp Emanuel gemeinsam mit Johann Friedrich Agricola verfassten Nekrologs bestätigen dies: “Johann Sebastian Bach, gehöret zu einem Geschlechte, welchem Liebe und Geschicklichkeit zur Musick, gleichsam als ein allgemeines Geschenck, für alle seine Mitglieder, von der Natur mitgetheilet zu seyn scheinen. So viel ist gewiß, daß von Veit Bachen, dem Stammvater dieses Geschlechts, an, alle seine Nachkommen, nun schon bis ins siebende Glied, der Musik ergeben gewesen, auch alle, nur etwan ein Paar davon ausgenommen, Profession davon gemacht haben.”

Wir wissen, dass Bach ein tiefes Interesse an seinen Vorfahren hegte, da er selbst einen Stammbaum der musikalischen Familienmitglieder konstruierte, der viele Generationen zurückreicht. Dieser Stammbaum ist insofern seltsam, als er keine weiblichen Familienmitglieder nennt. Vielleicht war dies damals unvermeidlich, allerdings war Bachs zweite Ehefrau, Anna Magdalena, eine ausgezeichnete Sängerin und Bach selbst räumte ein, dass auch seine älteste Tochter Catharina eine recht gute Stimme hatte.

“„[Johann Sebastian Bach] wurde im Jahre 1685 am 21. März, in Eisenach gebohren. Seine Eltern waren: Johann Ambrosius Bach [1645–1695], Hof- und Stadtmusikus daselbst; und Elisabeth, gebohrne Lemmerhirtin, eines Rathsverwandten in Erfurth Tochter”, heißt es im Nekrolog. Der Geburtsort ist von besonderer Bedeutung, denn in Eisenach erfuhr auch Martin Luther einen Teil seiner Ausbildung und hier übersetzte er auch das Neue Testament ins Deutsche. Als Bach starb, fanden sich in seiner Bibliothek nicht eine, sondern zwei vollständige Ausgaben der Schriften dieses großen Theologen. Die Gestalt Martin Luthers und sein von Luther geprägter Glaube waren für Bach sein ganzes Leben hindurch eine stete Quelle der Kraft.

Bachs Vater war Direktor der Stadtmusiker und spielte mehrere Instrumente (allerdings wohl eher nicht die Orgel). Es fällt auf, dass der junge Johann Sebastian in seinen frühen Jahren häufig in der Schule fehlte. Wir dürfen wohl annehmen, dass er abwesend war, weil er seinem Vater aushelfen musste; dabei wird er seine ersten musikalischen Erfahrungen gesammelt haben.

Im Nekrolog heißt es weiter: “Johann Sebastian war noch nicht zehen Jahr alt, als er sich, seiner Eltern durch den Tod beraubet sahe. Er begab sich nach Ohrdruff zu seinem ältesten Bruder Johann Christoph [1671–1721], Organisten daselbst, und legte unter desselben Anführung den Grund zum Clavierspielen. Die Lust unsers kleinen Johann Sebastians zur Musik, war schon in diesem zarten Alter ungemein”

Elisabeth Bach starb am 1. Mai 1694 und Ambrosius am 20. Februar 1695. Johann Sebastians Bruder Johann Christoph hatte drei Jahre bei dem berühmten Pachelbel studiert und besonderes Interesse an französischer Orgelmusik sowie an der großen norddeutschen Orgeltradition entwickelt. All dies sollte den jungen Johann Sebastian wesentlich beeinflussen.

 

1700–1703: Lüneburg

Johann Sebastian begab sich [im Jahr 1700], […] in Gesellschaft eines seiner Schulcameraden, Namens Erdman […] nach Lüneburg, auf das dasige Michaels-Gymnasium. [Hier wurde er], wegen seiner ungemein schönen Sopranstimme, wohl aufgenommen.”

Lüneburg war nicht nur wegen der exzellenten Qualität des Schulchors und der hervorragend ausgestatteten Musikbibliothek von großer Bedeutung – beides muss Bachs musikalische Entwicklung befördert haben –, sondern auch wegen der Besuche der berühmten Hofkapelle aus Celle, die fast ausschließlich französische Musiker verpflichtet hatte, welche ihr heimisches Repertoire aufführten. Tatsächlich war es sehr wichtig, französischen Musikern beim Spielen zuzuschauen, da die niedergeschriebene Notation nur einen vagen Eindruck davon vermittelt, wie lebhaft diese Musik sich in sympathisierenden Händen gestaltet.
Von Lüneburg aus reiste Bach auch nach Hamburg, wo er den berühmten Organisten Johann Adam Reinken hörte, der seine Orgelmusik wesentlich beeinflussen sollte. Auch wenn dies im Nekrolog nicht erwähnt wird, kann man sich kaum vorstellen, dass Bach sich während dieser Besuche nicht auch für die florierende Hamburger Oper interessiert hätte, wo Georg Friedrich Händel bald darauf seine Opernkarriere begann.

Im Jahre 1703 kam er nach Weymar, und wurde daselbst Hofmusikus.

Im Alter von siebzehn Jahren schließlich begann Bach, seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen – allerdings nicht in der Kirche, sondern bei Hofe, und indem er die Geige und nicht die Orgel spielte. Diese Anstellung währte jedoch nur wenige Monate, bevor Bach im August desselben Jahres an der Arnstädter Neuen Kirche eine Anstellung als Organist fand. Er war im Juni oder Anfang Juli gebeten worden, die dortige neue Orgel zu inspizieren, und hatte die Arnstädter offenbar sehr beeindruckt. Ganz offensichtlich war dies eine überwältigende Bestätigung der Fähigkeiten eines jungen Mannes, der gerade erst sein achtzehntes Lebensjahr vollendet hatte; es sollte aber erwähnt werden, dass der Name Bach in Arnstadt nicht unbekannt war. Mindestens sieben Mitglieder der Bach-Familie hatten dort vor dem Jahr 1703 bereits als Stadtmusiker oder Organist gewirkt. Die Bachsche Reputation und ein gewisses Maß an familiärem Einfluss hatten an der ersten festen Anstellung des jungen Johann Sebastian mithin sicherlich ihren Anteil.

 

1703–1707: Arnstadt. Bach der Organist

C. P. E. Bach berichtet: “Das Jahr drauf erhielt er den Organistendienst an der neuen Kirche in Arnstadt. Hier zeigte er eigentlich die ersten Früchte seines Fleisses in der Kunst des Orgelspielens, und in der Composition, welche er größtentheils nur durch das Betrachten der Wercke der damaligen berühmten und gründlichen Componisten und angewandtes eigenes Nachsinnen erlernet hatte“.

Wie sich herausstellte, war Arnstadt nicht wirklich die Traumanstellung, die Bach erhofft hatte. Bach war nominell für eine Gruppe von Schülern verantwortlich, von denen einige mehrere Jahre älter waren als er selbst. Und ganz offensichtlich hatte er Probleme mit seinen Vorgesetzten. Er weigerte sich, im Ensemble zu spielen oder für dieses zu komponieren und bestand darauf, dass er lediglich der Organist und nicht Musikdirektor sei (auch wenn eine solche Unterscheidung schwer zu rechtfertigen war); und in einem besonderen Fall – am 4. August 1705 – prügelte er sich sogar mit einem Fagottisten namens Geyersbach.

Dies war bei Weitem nicht die einzige Beschwerde, die gegen Bach erhoben wurde. Denn von Arnstadt aus unternahm er seine berühmte Reise nach Lübeck …

"Erscheinet Johann Sebastian Bach Organist in der Neüen Kirchen alhier,
mit Vorbringen wie Er gestern abends etwas späte in der Nacht vom Schloße aus,
nacher Hause gangen und ufm Marck kommen,
hetten 6. Schüler ufm Langensteine geseßen,
alß er nun dem Rathhause gleich kommen,
were ein Schüler Geyersbach hinter ihm her und mit einem Brügel uf ihn loß gangen". 
Aus dem Protokoll des Arnstädter Konsistoriums

“Hier in Arnstadt bewog ihn einsmals ein besonderer starker Trieb, den er hatte, so viel von guten Organisten, als ihm möglich war, zu hören, daß er, und zwar zu Fusse, eine Reise nach Lübek antrat, um den dasigen berühmten Organisten an der Marienkirche Diedrich Buxtehuden, zu behorchen. Er hielt sich daselbst nicht ohne Nutzen, fast ein vierteljahr auf, und kehrete alsdenn wieder nach Arnstadt zurück” (Nekrolog)

Die Arnstädter Behörden bewerteten Bachs Reise allerdings in weniger positivem Licht. Das Konsistorium rügte ihn dafür, vier Monate abwesend gewesen zu sein, obwohl man ihn nur vier Wochen gewährt hatte.

War er in der Absicht nach Lübeck gereist, sich um die Nachfolge des inzwischen fast siebzigjährigen Buxtehude zu bewerben? Sollte dies der Fall gewesen sein, mag ihn die (bei der Verpflichtung von Organisten damals nicht ungewöhnliche) Bedingung abgeschreckt haben, dass er dann Buxtehudes älteste Tochter zur Frau hätte nehmen müssen, die zehn Jahre älter war als der Zwanzigjährige. Was immer der Fall gewesen sein mag – der Nachfolger, den Buxtehude schließlich fand, hat sie tatsächlich geheiratet.

In Arnstadt wurde Bach auch dafür kritisiert, dass er die Choräle auf solch chromatische Weise spielte, dass die Gemeinde ihm nicht folgen konnte; außerdem spielte er angeblich zu lang, und schließlich warf man ihm vor, eine junge Frau auf die Orgelempore geführt zu haben. Dieser letzte Kritikpunkt ist besonders interessant, da wir wissen, dass er bald darauf eine entfernte Cousine heiratete, die denselben Namen trug, Maria Barbara Bach.
Heute nimmt man an, dass keine Kantaten aus der Arnstädter Zeit überliefert sind. Die einzige vormals Arnstadt zugeschriebene Kantate, „Nach dir, Her, verlanget mich“ BWV 150 (siehe Vol. 1), wird inzwischen eindeutig Mühlhausen zugeordnet.

Bach war nun offensichtlich in Arnstadt nicht mehr wohlgelitten und musste sich eine andere Anstellung suchen. Da kam es ihm gelegen, dass der Organist der St.-Blasius-Kirche in Mühlhausen im Dezember 1706 verstorben war, und im darauffolgenden April bewarb er sich mit einem Vorspiel. Das Ereignis fiel auf den Ostersonntag 1707 und es ist gut möglich, dass er die Kantate „Christ lag in Todesbanden“ BWV 4 aufführte (Vol. 1). Am 15. Juni 1707 wurde er im Alter von 22 Jahren als Organist engagiert, zu wesentlich günstigeren Arbeitsbedingungen als seinem Vorgänger gewährt wurden (so war es bereits in Arnstadt gewesen). Vier Monate später heiratete Bach.

 

1707–1708: Mühlhausen. Die ersten Kantaten

“Im Jahre 1707. wurde er zum Organisten an der S. Blasiuskirche in Mühlhausen berufen. Allein, diese Stadt konnte das Vergnügen nicht haben, ihn lange zu behalten.
Zweymal hat sich unser Bach verheyrathet. Das erste mal mit Jungfer Maria Barbara, der jüngsten Tochter des obengedachten Joh. Michael Bachs, eines brafen Componisten. Mit dieser hat er 7. Kinder, nämlich 5 Söhne und 2 Töchter, unter welchen sich ein paar Zwillinge befunden haben, gezeuget.“

 

Die beiden heirateten am Montag, dem 17. Oktober 1707. Wie dem Nekrolog zu entnehmen ist, blieb Bach nicht lange in Mühlhausen; 1708 war er bereits Organist in Weimar.

Wie kurz Bachs Aufenthalt in Mühlhausen auch gewesen sein mag, wo die meisten der auf dieser CD eingespielten Kantaten zuerst aufgeführt wurden (es ist kaum möglich, seine frühen Kantaten genau zu datieren) – er schuf dort großartige Musik von höchster Originalität.
Trotzdem müssen wir annehmen, dass die musikalischen Kräfte in Mühlhausen begrenzt waren. Es ist allerdings bemerkenswert, dass für die (in unserem Projekt nicht berücksichtigte) Kantate Gott ist mein König BWV 71, die Bach im Jahr 1708 für den alljährlich am Tag nach der Ratswahl gehaltenen Gottesdienst komponierte, vier Instrumentalchöre zur Verfügung standen: Chor 1 bestand aus drei Trompeten und Pauken, Chor 2 aus zwei Blockflöten und Cello, Chor 3 aus zwei Oboen und Fagott und Chor 4 aus zwei Violinen, Viola und Violone.

Wenn wir von den Trompeten und Pauken einmal absehen, die in den für diese Aufnahme ausgewählten Kantaten nicht verlangt werden, haben wir alle in unserem Programm benötigten Instrumente beisammen, mit einem Spieler pro Instrumentalpartie. Außerdem ist Bachs autographer Partitur von BWV 71 zu entnehmen, dass es möglich sei (und aus seiner Sicht vorzuziehen? Warum sonst hätte er dies vorgeschlagen?), mit vier Vokalsolisten (Concertisten) und vier weiteren, optionalen Sängern (Ripienisten) auszukommen. Ich habe unser Ensemble für Vol. 1 nach diesem Modell zusammengestellt, mit solistisch besetzten Instrumenten, vier Solosängern und weiteren vier Sängern für die Chöre. Die Frage der Vokalbesetzung ist auch seit den Forschungsarbeiten von Joshua Rifkin und Andrew Parrott weiterhin kaum mit einem gewissen Maß an Sicherheit zu lösen und ich will daher nicht behaupten, dass es sich bei meiner Entscheidung um eine definitive Antwort handelt. Es handelt sich lediglich um einen (ursprünglich von Bach selbst gemachten) Vorschlag, der gut zu funktionieren scheint, da er der Musik Plastizität und Vielseitigkeit verleiht und zugleich einen „chorhaften“ Klang vermeidet.

 

Weimar (1708-1717) : Die Niederlassung eines jungen und ehrgeizigen Familienvaters

Es gibt wohl insgesamt drei Gründe dafür, dass Bach Mühlhausen nach nur einem Jahr den Rücken kehrte. Zum einen veranlasste ihn sein ambitioniertes Naturell, einer städtischen Anstellung eine Position an einem herzoglichen Hof vorzuziehen, wo sein Gehalt wesentlich höher war. (Bach war seiner Musik keineswegs derart verfallen, dass er die Kunst des Verhandelns vernachlässigt hätte, und er wechselte niemals sein Arbeitsverhältnis, ohne seinen Lebensstandard dabei wesentlich zu verbessern.) Zum anderen mag ihn auf der musikalischen Ebene das kleine, aber wesentlich kompetentere Ensemble gereizt haben, das er in der herzoglichen Schlosskapelle vorfand; und drittens verließ er Mühlhausen natürlich nicht allein.

 

Maria Barbara

Am 7. Oktober 1707 heiratete er seine entfernte Kusine Maria Barbara, die den Namen Bach bereits trug; und zur Zeit ihrer Ankunft in Weimar war sie schon mit ihrem ersten Kind schwanger. An diesem wichtigen Punkt seines Lebens bewog seine unmittelbar bevorstehende Verantwortung als Vater und Familienoberhaupt den jungen Komponisten sicherlich, die bestmögliche Anstellung zu suchen. Die Geburt von Catharina Dorothea am 29. Dezember 1708 markierte den Beginn einer großen Familie, in der sich freudige Anlässe und tragische Ereignisse die Waage halten sollten. Bach wurden insgesamt zwanzig Kinder geboren, von denen zehn bereits in Säuglingsalter starben – ein trauriger Spiegel der hohen Kindersterblichkeit in seiner Zeit. In den neun Jahren, die sie in Weimar lebten, bekamen Maria Barbara und Johann Sebastian sechs Kinder. Nach Catharina Dorothea (die unverheiratet blieb und später in Leipzig Bachs zweite Ehefrau Anna Magdalena helfend unterstützte) kam ein Junge, Wilhelm Friedemann (1710), der wie sein Vater Musiker und Komponist wurde. Sodann folgten die Zwillinge Maria Sophia und Johann Christoph, die innerhalb eines Monats nach ihrer Geburt im Jahr 1713 starben. Carl Philipp Emanuel, der wohl erfolgreichste unter Bachs Komponistensöhnen, wurde 1714 geboren. Sein Bruder Johann Gottfried Bernhard folgte 1715; er gab die Musik auf, um Jura zu studieren, starb jedoch bereits mit 24 Jahren. Für Bach war sein Familienleben genauso wichtig wie seine Musik, und dies beweist – sofern es eines Beweises bedarf –, dass der Mann auf dem hohen Sockel die alltäglichen Freuden des Ehelebens ebenso sehr genoss wie seine Musik.

 

In Drese’s Schatten

Bei seiner Ankunft in Weimar fand der junge Johann Sebastian eine Anstellung als Organist und Kammermusiker, aber nicht als Kapellmeister (diese Position hielt der alternde Johann Samuel Drese); glücklicherweise wurde sein Gehalt aber Schritt für Schritt erhöht, indem seine Verpflichtungen zunahmen und seine Familie wuchs und gedieh. 1711 erhielt er eine beträchtliche Gehaltserhöhung, und eine weitere folgte 1714, als er zum Konzertmeister ernannt wurde. Ab 1714 war Bach angewiesen, den kränklichen Drese zu unterstützen, indem er jeden Monat eine Kantate komponierte. Eine Auswahl dieser Kantaten hören wir auf der vorliegenden CD. Dass wir in den von Bach in Weimar komponierten Kantaten einen deutlichen französischen Akzent wahrnehmen, mag reflektieren, dass er jetzt an einem herzoglichen Hof wirkte und nicht in einer freien Stadt. Der Eröffnungschor unserer ersten Kantate, BWV 12, ist eigentlich eine Chaconne über einem chromatischen Bass, während es sich bei der Eröffnung der Kantate BWV 61 um eine ausgewachsene französische Ouvertüre handelt. Im Zusammenhang mit dem ersten Adventssonntag macht diese ungemein theatralische Geste durchaus Sinn. So wie Lullys stolze Ouvertüren das Eintreffen von Ludwig XIV. im Theater verkündeten, kündigt Bach die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Königs der Könige auf Erden an. Denselben Gedanken greift auch Telemann im Eröffnungssatz seiner Kantate TWV 1:1178 auf denselben Text auf, allerdings in etwas weniger ostentativer Manier (Siehe unten: Musik der Bach-Zeit).

 

Von Weimar nach Köthen

In Weimar mag die Anordnung, monatlich Kantaten zu liefern, Bach zu dem Glauben verleitet haben, dass er nach dem Tod des Amtsinhabers Drese endlich den Titel eines Kapellmeisters zugesprochen bekäme. Sollte dies der Fall gewesen sein, erlebte er eine herbe Enttäuschung. Als Drese im Jahr 1716 starb, wurde sein Sohn zu seinem Nachfolger bestimmt (auch Drese senior war seinem Vater in dieses Amt gefolgt). Bachs genaue Reaktion auf diese Enttäuschung ist uns natürlich nicht bekannt; das Ergebnis war jedenfalls, dass er im darauffolgenden Jahr (1717) eine Anstellung in Köthen annahm. Die Art wie er dies einfädelte, führte zu großen Verstimmungen. Als Einwohner der Stadt Weimar und Angestellter bei Hofe wäre er verpflichtet gewesen, seine Vorgesetzten um Erlaubnis zu bitten, bevor er anderswo ein Arbeitsverhältnis aufnahm. Doch Bach ignorierte das notwendige diplomatische Prozedere und dies erzürnte seine Dienstherren über die Maßen. Er wurde „seiner Halßstarrigen Bezeügung“ für schuldig befunden und für einen Monat „auf der LandRichter-Stube arrêtiret“. Seine Freilassung erfolgte „mit angezeigter Ungnade“ und er verließ die Stadt baldmöglichst als ein Geächteter. Möglicherweise waren Maria Barbara und die Kinder zu diesem Zeitpunkt bereits nach Köthen gezogen. Bach war zwar sicherlich fähig, fromme Musik zu schreiben, aber sein Charakter war eindeutig irdischer Natur.

 

Ich habe für diese Kantaten erneut kleine Besetzungen gewählt. Die Hofkapelle in Weimar zählte einschließlich des Kapellmeisters nur vierzehn Musiker und Sänger. Meine Entscheidung, die Zahl der Chorsänger zu verdoppeln, entspricht Bachs eigenem Vorschlag für die Kantate BWV 71. Ich postuliere dies nicht als definitive Lösung für die sehr schwierige Frage, wie viele Sänger Bachs Chor umfasste, aber es ist eine Lösung, die in den konzertanten Passagen zu einer gewissen Entspannung führt, ohne auf einen echten Chorklang zurückzugreifen zu müssen. Wenn man Bach interpretiert, riskiert man sein Leben. Seine Musik ist weithin bekannt und beliebt, aber ich bin mir immer der Gefahr bewusst, einer Aufführungspraxis zu folgen, die eher auf unsere im 20. und 21. Jahrhundert geformten Gewohnheiten Bezug nimmt als darauf, was Bach selbst praktiziert haben mag. Für die Tempi können wir uns von Bachs Anweisungen wie „Adagio“ oder „Lente“ usw. leiten lassen, sofern wir sie im Kontext des 18. Jahrhunderts zu deuten vermögen; und natürlich enthält auch der Text Hinweise. Der einzige zeitgenössische Kommentar zum Tempo stammt aus dem von Carl Philipp Emanuel verfassten Nekrolog. Er teilt uns mit:

 

„Im Dirigiren war er sehr accurat, und im Zeitmaaße, welches er gemeiniglich sehr lebhaft nahm, überaus sicher.“ (Bach-Dokumente, Bd. III: Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1750–1800, vorgelegt und erläutert von Hans-Joachim Schulze, Leipzig und Kassel 1972, S. 87)

Musik der Bach-Zeit

Mir ist zudem daran gelegen, auf jeder CD dieser Reihe auch eine Kantate von einem Zeitgenossen Bachs zu Gehör zu bringen – zum einen, um bestimmte Einflüsse herauszustellen und zum anderen, um einen direkten Vergleich zu ermöglichen, was noch einmal ein besonderes Licht auf die schon in den frühesten Werken zu Tage tretende Einzigartigkeit, Kühnheit und extreme Kunstfertigkeit des späteren Leipziger Kantors wirft.

In das Programm der ersten CD habe ich zudem Johann Kuhnaus Kantate Christ lag in Todesbanden aufgenommen in der Absicht, Bachs eigene Werke mit etwas Kontext zu versehen. Als er diese Komposition im Jahr 1693 schuf, war Kuhnau (1660–1722) bereits Organist an der Leipziger Thomaskirche; mit dem 1701 erfolgten Tod von Johann Schelle wurde er Kantor, und nach seinem eigenen Tod im Jahr 1722 wiederum wurde Bach sein Amtsnachfolger. Ich war natürlich versucht, die beiden Vertonungen desselben Texts – Christ lag in Todesbanden – zum Vergleich einander gegenüberzustellen. Bach wird schon früh mit Kuhnaus Orgelwerken vertraut gewesen sein, und 1716 (wenn nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt) begegneten die beiden einander persönlich in Halle anlässlich der gemeinsamen Prüfung einer neuen Orgel. Zwischen den beiden Vertonungen bestehen durchaus Ähnlichkeiten – die eröffnende Sonata beginnt in der düsteren Atmosphäre des Grabes und im zweiten Satz wird der Choral über der energievollen Begleitung des Instrumentalensembles gesungen. Doch ab dem vierten Satz wendet Kuhnau sich von der Choralmelodie ab und wählt eine liedhafte Vertonung mit Instrumental-Ritornellen, die alle Stimmen des Ensembles durchläuft, bevor er im letzten Satz in quasi-fugierter Setzweise zu der Melodie zurückkehrt.

 

Ich habe Telemann hier mit eingeschlossen, so wie ich in unserer ersten CD Kuhnau ausgewählt habe, um Bachs Werke im Kontext zu präsentieren. Bach schrieb seine Musik nicht in einem Vakuum, sondern in einer Gemeinschaft von Komponisten und Musikern, die ihn beeinflussten und die er selbst wiederum zwangsläufig ebenfalls beeinflusste. Bach und Telemann verfolgten ähnliche berufliche Laufbahnen, doch während Bach in seinen Werken stilistisch vergleichsweise konservativ blieb, griff Telemann die neuesten Trends auf (und prägte diese auch in gewissem Maße). Die beiden Männer waren offensichtlich gut miteinander bekannt. Telemann übernahm die Patenschaft von Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel, und in der Zeit, als Bach in Weimar tätig war, wurde Telemann in Bachs Heimatstadt Eisenach Konzertmeister (1708) und anschließend Kapellmeister. Er wird in seiner dortigen Zeit vielen der in der Stadt lebenden Verwandten und Kollegen Bachs begegnet sein. Später sollten die Namen der beiden ein weiteres Mal miteinander in Verbindung gebracht werden bei der Suche nach einem Nachfolger für Johann Kuhnau als Kantor in Leipzig (Telemanns Absage führte letztlich zu Bachs Anstellung), und als Telemann starb, übernahm Carl Philipp Emanuel Bach dessen vakant gewordene Position als Musikdirektor in Hamburg.

 

Interessanterweise signierte Kuhnau seine Arbeit genau wie Bach mit „SDG“ –Solo Dei Gloria. Das Stück ist in Stil und Umfang für sein Kantatenschaffen nicht untypisch und man fragt sich, was die an die relative Einfachheit von Kuhnaus eher archaischem Stil gewohnte Gemeinde von Bachs überaus intrikatem und hochentwickeltem reifen Stil gehalten haben mag, ganz zu schweigen von dem an seinem ersten Weihnachtsfest in Leipzig im Jahr 1723 präsentierten Magnificat oder der an seinem ersten Osterfest 1724 aufgeführten Johannes-Passion. Doch ich greife vor. Noch hat Bach seinen reifen Stil nicht entwickelt. Er war achtzehn, als er in Arnstadt eintraf, und erst 23, als er Mühlhausen den Rücken kehrte und nach Weimar ging; und selbst in diesem jungen Alter hat er uns bereits sehr viel mitzuteilen.

Der junge Paul Agnew singt Bach

 

Hätten Sie ihn erkannt? Paul Agnew als Kind, mit dem St David Cathedral Choir, Cardiff (1976)

Fortsetzung folgt …

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